In der Hamilton-Mechanik steht man häufig vor folgendem Problem: Gibt es einen Satz von (verallgemeinerten) Koordinaten und (dazu kanonisch konjugierten) Impulsen, bezüglich derer die Hamilton-Gleichungen eine möglichst einfache Form annehmen? Und wenn ja, gibt es eine Möglichkeit diese Koordinaten und Impulse nicht bloß zu erraten, sondern systematisch zu konstruieren? Mit dem Konzept der kanonischen Transformationen will man darauf eine Antwort finden. Die Transformation zu solchen neuen Phasenraum-Koordinaten1 darf die zugrundeliegende Lagrange-Funktion natürlich nicht ändern; daher das Wort kanonisch, was soviel wie “regelgerecht” bedeutet.
Was sind kanonische Transformationen?
Ein mechanisches System mit f Freiheitsgraden und einer Koordinatenwahl qi ist definiert durch seine Lagrange-Funktion L(qi,q˙i,t). Mithilfe der kanonischen Impulse
pi:=∂q˙i∂L,i=1,…,f(1)
lässt sich über eine Legendre-Transformation von der Lagrange- zur Hamilton-Funktion wechseln:
H(q,p,t)=piqi˙(pi)−L(q,q˙(pi),t),(2)
woraus sich aus den Euler-Lagrange-Gleichungen
dtd∂q˙i∂L−∂qi∂L=0.(3)
die Hamiltonschen Bewegungsgleichungen ergeben:
qi˙=+∂pi∂H,pi˙=−∂qi∂H.(4)
Die Wirkung S, die als Zeitintegral der Lagrange-Funktion definiert ist, lässt sich als Funktion des Phasenraums auffassen, der von den verallgemeinerten Koordinaten q und den kanonisch konjugierten Impulsen p aufgespannt wird:
Mit dieser Wirkung kann man das Hamilton-Wirkungsprinzip formulieren:
0=δS[q,p]=δ∫t0t1dt[piqi˙−H(q,p,t)](6)
das aussagt, dass mechanische Systeme Bahnen im Phasenraum folgen, längs derer die Wirkung extremal wird, d.h. δS=0.
Weil Lagrange- und Hamilton-Gleichungen beide völlig unabhängig von der konkreten Koordinatenwahl gelten, ist es jederzeit möglich zu anderen Koordinaten Qi(q1,…,qf,t) zu wechseln. Um zu gewährleisten, dass die diese Transformation umkehrbar ist, darf die Funktionaldeterminante nicht verschwinden,
det(∂(q1,…,qf)∂(Q1,…,Qf))=0.(7)
Der Übergang zu neuen verallgemeinerten Koordinaten Qi erzeugt nur eine lineare Transformation der dazu konjugierten Impulse:
Diese Transformation der verallgemeinerten Koordinaten q ist ein erstes Beispiel für kanonische Transformationen, da sich bei dieser Transformation die Hamilton-Gleichungen in ihrer Form nicht ändern.
Tatsächlich lässt eine erheblich größere Klasse von Transformationen
Qi=Qi(q,p,t),Pi=Pi(p,q,t)(9)
die Hamilton-Gleichungen Gl. 4 invariant. Um das zu zeigen, wollen wir folgende Annahme machen: Es möge auf dem erweiterten Phasenraum eine Funktion Φ(q,p,t) geben, so dass sich der Integrand in Gl. 5 auf folgende Weise verändert:
piqi˙−H(q,p,t)=PiQi˙−K(Q,P,t)+dtdΦ.(10)
Zwar nimmt die Hamilton-Funktion2 dadurch eine neue Form K an, allerdings bleibt die Wirkung invariant, weil sich Gl. 10 nur um eine totale Zeitableitung ändert. Transformationen, für die Gl. 10 gilt, bezeichnen wir im Folgenden als “kanonisch”.
Analog zu Gl. 4 gelten auch für Qi und Pi entsprechende Hamilton-Gleichungen
Qi˙=∂Pi∂K(Q,P,t),Pi˙=−∂Qi∂K(Q,P,t)(11)
Eine sehr nützliche Transformation ist die sogenannte “Transformation auf Ruhe”, bei die neue Hamilton-Funktion verschwindet und deshalb
Qi˙=0=Pi˙(12)
gilt. Diese “mitbewegten Phasenraum-Koordinaten” erfüllen definitionsgemäß Gl. 12.
Systematische Konstruktion
Zur systematischen Konstruktion von kanonischen Transformationen nehmen wir zunächst eine beliebige Funktion Φ(q,Q,t), die außer von den f verallgemeinerten Koordinaten qi auch von weiteren f Parametern Qi und von der Zeit t abhängen soll, und zusätzlich
det(∂qi∂Qj∂2Φ)=0(13)
erfüllt, sodass Φ invertierbar ist.
Wir wollen nun folgende Behauptung aufstellen: Eine durch die Funktion Φ(q,Q,t)erzeugte Transformation sei kanonisch, falls:
Im Allgemeinen ist der Aufwand eine passende erzeugende Funktion zu finden nicht geringer, als die Bewegungsgleichungen direkt in den ursprünglichen Koordinaten zu lösen. In der Praxis würde man eine Erzeugende einfach raten und anschließend nachrechnen müssen, ob die entsprechende kanonische Transformation eine besonders bemerkenswerte Eigenschaft des Systems widerspiegelt.
Falls die erzeugende Funktion Φ(q,Q,t) die sogenannte Hamilton-Jacobi-Gleichung
H(q,∂q∂Φ,t)+∂t∂Φ=0(22)
erfüllt, verschwindet die Hamilton-Funktion nach derjenigen kanonischen Transformation, die durch Φ erzeugt wird. Eine kanonische Transformation, deren Erzeugende die Hamilton-Jacobi-Gleichung erfüllt, entspricht mitbewegten Phasenraumkoordinaten. Die transformierten Koordinaten (Qi,Pi) bleiben dann aufgrund von Gl. 12 allesamt konstant.
Beispiel: Harmonischer Oszillator
Die Lagrange-Funktion für den harmonischen Oszillator lautet:
L=T−V=2mq˙2−2kq2,(23)
wobei ω2=k/m die Schwingungsfrequenz angibt. Mit dem kanonischen Impuls
p=∂q˙∂L=mq˙(24)
folgt für die Hamilton-Funktion
H(q,p)=2mp2+2mω2q2.(25)
Wir betrachten nun diejenige kanonische Transformation, die durch die folgende Funktion erzeugt wird:
Φ(q,Q)=2mωq2cot(Q).(26)
Da es sich dabei um eine Erzeugende der ersten Klasse Gl. 21 handelt, gilt für die beiden Impulse
Weil die erzeugende Funktion Gl. 26 nicht explizit zeitabhängig ist, gilt wegen Gl. 17 für die neue Hamilton-Funktion K=H. Einsetzen von Gl. 28 und Gl. 26 in Gl. 25 liefert
K(Q,P)=ωP.(30)
Wir erkennen nun, dass die transformierte Hamilton-Funktion K gar nicht mehr von Q abhängt; Q ist also offenbar zyklisch3. Nach den Hamilton-Gleichungen Gl. 11 gilt
Die beiden Ausdrücke für Q und P können wir nun in Gl. 28 einsetzen und erhalten:
q=mω2P0sin(ωt+Q0).(32)
In dieser Gleichung treten die beiden Integrationskonstanten Q0 und P0 auf. Durch P0 wird die Amplitude der Schwingung festgelegt. Wie wir in Gl. 31 gesehen haben, ist diese für den harmonischen Oszillator konstant. Die Größe Q legt wiederum die Phase der Schwingung fest. Diese nimmt nach Gl. 31 linear mit der Zeit t zu: Effektiv zeigt das System in der Koordinate Q eine inertiale Bewegung!
Viel Lärm um nichts?
Wir haben gesehen, dass Kanonische Transformationen die Hamilton-Gleichungen invariant lassen und wie sich kanonische Transformationen aus einer einzigen Funktion herleiten. Häufig ist allerdings der Aufwand eine passende Funktion zu finden nicht geringer, als die Bewegungsgleichungen direkt in den ursprünglichen Koordinaten zu lösen. Das wirft natürlich die Frage auf, wozu überhaupt nach solchen Funktionen suchen?
Die Antwort auf diese Frage liegt in einem tieferen Verständnis der theoretischen Mechanik. Denn wie sich herausstellen wird, ist die zeitliche Entwicklung des Systems selbst eine kanonische Transformation! Um das zu sehen, wollen wir uns eine zunächst beliebige infinitesimale Transformation anschauen:
qp⟶Q=q+εA(q,p),⟶P=p+εB(q,p),(33)
wobei ε infinitesimal sein soll.
Wie wir in einem anderen Artikel [1] sehen konnten, gilt unter anderem für die fundamentalen Poisson-Klammern{Q,P}=1, was sich unter einer kanonischen Transformation nicht ändern darf:
Für ε≪1 wollen wir Terme proportional zu ε2≈0 vernachlässigen. Die Transformation ist also genau dann kanonisch, falls es eine Funktion G(q,p) gibt, sodass
A=∂p∂G,B=−∂q∂G,(35)
was sich wiederum zu
q⟶Q=q+ε∂p∂G,p⟶P=p−ε∂q∂G,(36)
vereinfachen lässt. Beide Transformationen lassen sich umschreiben zu:
εQ−q=∂p∂G,εP−p=−∂q∂G(37)
Betrachtet man infinitesimale Transformationen, d.h. den Grenzwert ε→0, erkennt man zwei Ableitungen nach dem Parameter ε:
∂ε∂Q=∂p∂G,∂ε∂P=−∂q∂G.(38)
Vergleicht man das mit den Hamilton-Gleichungen Gl. 4, sieht man schnell, dass beide eine identische Struktur haben. Betrachtet man z.B. als Parameter ε die Zeit t, entspricht Gl. 38 den ursprünglichen Hamilton-Gleichungen genau dann, wenn man als erzeugende Funktion G die Hamilton-Funktion wählt. Mit anderen Worten, die Hamilton-Funktion “erzeugt” die zeitliche Entwicklung des Systems; die “Bewegung” ist also in gewisser Weise eine kanonische Transformation. Wählt man andererseits als Erzeugende den Impuls, sieht man sofort, dass
q⟶q+ε,p⟶p,(39)
was einfach einer Translation entspricht.
Zusammenfassung
Mit kanonischen Transformationen wechselt man zwischen Phasenraumkoordinaten, die die Bewegungsgleichungen des Systems und die Wirkung unangetastet lassen. Manche Koordinatenwahlen, die durch kanonische Transformationen konstruiert werden, zeigen besondere Eigenschaften der Systeme auf, aber alle kanonischen Koordinatenwahlen sind in der Lage, das System sinnvoll zu beschreiben. In einer gewissen Weise ist eine Intuition in der Koordinatenwahl nicht mehr notwendig, und man kann etwas Wahres über die Dynamik eines Systems aussagen, ohne an eine Koordinatenwahl gebunden zu sein.